Ich existiere, aber niemand kann mich sehen. Ich bin frei – kein Widerstand, keine Grenzen. Ich bewege mich mit Lichtgeschwindigkeit, aber selbst das Licht kann mich nicht einholen. Ich bin virtuell, ich bin masselos. Ich bin mein eigener Gegner, mein Antiteilchen bin ich selbst. Für mich gelten andere Dinge als für meine Freunde. Niemand kennt mich und niemand hat mich jemals gesehen. Und doch: Ohne mich würde alles auseinanderfallen. Ein winziger Krümmungsimpuls stösst mich aus. Schon wieder geht es los. Meine Reise beginnt, obwohl sie schon lange begonnen hatte.
while True:
Die Stimmung im Unendlichen ist angespannt. Hin und wieder zittert die Krümmung um mich herum. Ich bin völlig orientierungslos. Mir wird schwindelig, alles verzerrt sich. Ich wandere schon seit einer Ewigkeit vor mich hin, doch ich komme nicht wirklich vorwärts. Wer weiss, ob es überhaupt ein Ende gibt. Es geht nur weiter geradeaus, doch eigentlich drehe ich mich im Kreis. Ich gehe Es geht schon eine Weile so. Doch wann es gewesen ist, kann ich nicht sagen. Alles ist jetzt. Immer ist jetzt.
Eine Rakete fliegt neben mir. Ich werfe einen Blick in das Cockpit, in dem Bob sitzt. Seine Rakete konnte nicht abbremsen, sodass er ist nie zu seinem Zwilling zurückgekehrt ist. Mit einem letzten Blick auf die Erde ist Bob davongeflogen. Er wird für immer jünger bleiben als Alice. Eine Träne kullert seine Wange runter, denn Alice ist schon lange tot.
Die Geschwindigkeitsgrenze wird nicht von allen eingehalten: Ein Tachyon schiesst an mir vorbei. Innerlich schüttle ich meinen Kopf, darf er so? Doch wer weiss denn schon, wer was darf im Unendlichen.
Ich erkenne einen alten Bekannten: X (lim X -> ∞). Angeblich ist er endlich am Ziel angekommen, das hat niemand erwartet, denn X ist schon ewig unterwegs gewesen. Aber irgendwie ist X immer noch nicht angekommen, scheint es mir. Neben ihm ist seine Freundin, die Funktion f(x) = 1/x, und fragt ihn, „Wann kommen wir an?“ Sie gehen weiter und immer weiter. „Nur noch bis dort… wir sind immer näher“. Sie kommen immer näher, doch erreichen das Ziel nie. Spoiler: Es gibt kein Ende. Sorry, X.
Ein heftiger Knall lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Ich blicke auf und sehe das Unfassbare: Die Parallelen sind kollidiert. Ein Leben lang schauten sie sich mit 2cm Abstand an, doch durften sich nie berühren. Nun ist es geschehen. Ein berührender Moment, doch wann war er? Gestern? Wann war ich das letzte Mal dort, wo ich früher war? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich wandere zu schnell, die Zeit verliert Bedeutung. Aber ich habe ja ein Ziel. Etwas muss erhalten bleibe.
Y winkt mir zu. Ihm ist langweilig, denn er steht schon lange in der Schlange. Alle seine Variablenfreund:innen stehen mit ihm an. Sie wollen im Hotel Hilbert einchecken, um morgen mit neuen Kräften weiterzuziehen. Zum Glück hat es Platz für alle. Jemand hat etwas Mandelbrot mitgenommen – als Fraktalproviant. Zum Glück haben sie genug für alle. In der anderen Schlange warten alle Summen auf ein Hotelzimmer. Doch Moment – jemand fehlt: Wo ist die Summe von ℕ??
Ich erblicke an meiner Seite Bob – schon wieder? Alles erscheint mir vertraut und doch so neu. Lichtblitze, Knalle der Parallelen: Alles passiert jetzt und überall und immer wieder. Ich befinde mich in einer Endlosschlaufe. Alles ereignet sich, weil alles wahrscheinlich ist, hier. Ich ertrage das nicht mehr. Das Unendliche. Ein Sog von links und vom anderen Links greift mich eine tote Katze an. Das Universum zittert, rauscht und rattert. Ich falle aus der Krümmung und wälze mich wie ein Wurm durch ein Loch.
break
Endlich ist meine Reise fertig, sie hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Eine kosmische, mythische Instanz zieht mich aus dem Unendlichen und ich kann beenden, was ich angefangen habe. Endlich stosse ich mit einem heftigen Knall auf. Die Erde drehte weiter und weiter, bis in die Ewigkeit. Ein kleiner Stoss für die Erde, jedoch ein grosser für den Menschen, der gerade zu Boden fällt wegen mir.
Ich bin das Graviton. Ich übertrage die Gravitationskraft – theoretisch, vielleicht, hypothetisch, aber niemand weiss das. Ich bin nur ein Bote, eine Welle ohne Gewicht, eine Spur ohne Substanz. Und doch: Ich halte alles zusammen.
Jede Kraft besitzt ein Austauschteilchen, welches die Kraft auslöst beziehungsweise die Energie überträgt. Bei der elektromagnetischen Kraft ist das Photon das Austauschteilchen. Das Graviton wird von einem Körper A ausgesendet, reist durch das Unendliche und trifft schliesslich auf einen Körper B auf. Durch die Rückstoss- und Aufprallkraft ziehen sich die Körper an. Das Graviton wurde jedoch noch nicht nachgewiesen und bleibt deshalb eine Theorie.
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https://www.naklar.at/content/features/zwillinge/
https://www.uni-muenster.de/FB10/Mathetag/2017infinity.html
https://www.welt.de/wissenschaft/article10361079/Mandelbrot-bewies-die-Schoenheit-der-Mathematik.html
https://www2.physki.de/PhysKi/images/5/5b/Austauschteilchen.jpg