Als Gotthold Ephraim Lessing zur Zeit der Aufklärung in einer Bibliothek Schriften von dem Professor Reimarus fand, begann der sogenannte ‚Fragmentenstreit‘ zwischen Lessing und der Pastor Johann Melchior Goeze. In Reimarus Schriften wurde die Bibel aus einer rationalen Perspektive kritisiert und Widersprüche aufgezeigt. Lessing kam zu dem Schluss, die Bibel sei nicht wörtlich zu verstehen, sondern in Sprachbildern. Folglich sind verschiedene Interpretationen der Bibel möglich und verschiedene Religionen legitim beziehungsweise gleich war oder gleich falsch. Wichtig ist nicht, was die Wahrheit ist oder welche Religion richtig ist, sondern das aufklärerische Denken, das der Mensch anwendet, um hinter die Wahrheit zu kommen. Es geht nicht darum, welche Religion richtig ist, sondern wie die Menschen handeln. Irrtümer, die sich aus der begrenzten Erkenntnisfähigkeit des Menschen ergeben sind verzeihbar. Schlimm ist das starre und sture Beharren auf dogmatischen Positionen.
In vielen Briefen stritten Goeze und Lessing, da Goeze fundamentalistisch auf seiner Religion und seinem Weltbild beharrte. Irgendwann reichte es dem Herzog, dass Lessing die gottgegebene Ordnung in Frage stellte, woraufhin Lessings damalige Zensurbefreiung aufgehoben wurde. Aus diesem Publikationsverbot resultierte das Theaterstück Nathan der Weise. Das Ideendrama wirft die Frage nach der richtigen Religion auf. Darin klärt Nathan die anderen Charaktere auf, dass es nicht um die Wahrheit beziehungsweise um die richtige Religion geht, sondern um die Absicht mit der die Menschen handeln?und wie die Menschen handeln, was in der Ringparabel gezeigt wird. Wir sind alle primär Menschen.
Lessing wollte seine Idee vermitteln, wurde aber durch das Publikationsverbot daran gehindert. Daraufhin verpackte er seine Aussage in eine Geschichte beziehungsweise in das Theaterstück. Als ich jenes im Deutschunterricht las und wir den Hintergrund dazu behandelten, fragte ich mich, inwiefern ein literarischer Text im Vergleich zu einem Sachtext besser geeignet ist, um eine Aussage wie diese von Lessing zu vermitteln. Löst eine Geschichte mehr aus als ein Sachtext?
Erzählungen und Geschichten prägten schon die ganze Menschheitsgeschichte. Geschichten sprechen uns emotional an, wir können uns mit den Figuren identifizieren und mitfühlen. Wir Menschen sortieren unsere Wahrnehmungen in Geschichten ein. Chaos vertragen wir schlecht, unsere Gehirne versuchen überall ein Muster zu erkennen. Wir brauchen narrative Strukturen, um unsere Gedanken zu ordnen. Wenn uns eine Geschichte berührt, ängstigt oder wir uns damit identifizieren, werden gewisse Botenstoffe ausgeschüttet. Wir erinnern uns besser an Emotionen als an Fakten. «People remember how stories make them feel, and are more inspired to take action than if they just heard facts and figures». Eine Geschichte gibt uns ein direktes Beispiel, welches wir auf eine allgemeine Aussage induzieren können. Dadurch, dass die Aussage nicht explizit formuliert wird, bleibt ein gewisser Interpretationsspielraum frei. So zieht jeder und jede aus einem literarischen Text vermutlich etwas andere Schlüsse. Schliesslich lieben wir Menschen Geschichten und hören ihnenlieber zu ihnen zu als nackten Fakten und Sachtexten. Die Spannung ist bei den meisten Geschichten stärker als bei Sachtexten. Hätte Lessing weiterhin nur sachliche Briefe geschrieben, hätten wir wahrscheinlich diese Thematik beziehungsweise Lessings Streit auch mit Goeze nicht im Deutschunterricht behandelt. Lessing zeigt die Frage und seine Antwort in dem Theaterstück Nathan der Weise. Er konnte seine Botschaft in diese Geschichte verpacken und so seine wichtige Botschaft besser vermitteln. Auch heute haben wir viele und ähnliche Probleme auf der Welt wie Religionskonflikte, Klimakrise und Kriege. Geschichten und Narrative haben können einen grossen Einfluss auf Menschen haben, vielleicht können wir mit der Kunst der Geschichten die Welt ein wenig retten?